Das Reich der Schatten
Die Aufgabe des Philosophen besteht darin, die Welt, wie sie auch immer beschaffen und zugänglich sein mag, zu analysieren. Sein Gebiet liegt in den Begrifflichkeiten, deren Verwendung sowie der Deutung und Koordinierung bzw. Einordnung der Ergebnisse empirischer Einzelwissenschaften.
Der Dichter hingegen bewegt sich, wie es zunächst scheint, in ganz anderen Sphären. Er analysiert nicht eine vorgefunde Welt, sondern schafft – indem er dichtet – eine oder mehrere neue. Ob es in diesem Universum nun Widersprüchlichkeiten geben mag, daran stört sich der Dichter nicht und muss es auch nicht tun. Er schafft, gleichsam aus dem Nichts, alles, und zwar wie es ihm beliebt, und wo der Philosoph vor Empörung aufspränge, schaut er mit einem zufriedenen Lächeln darüber hinweg, weil es für ihn keine Bedeutung hat.
So muss es auf den ersten Blick scheinen, dass, wer sich dazu anschickte, beides, nämlich Philosoph und Dichter, zugleich sein zu wollen, sich in eine unüberwindliche Dialektik zu verwickeln hätte, mithin in Kauf nehmen zu müssen, auf andere als in sich zerrissen zu dünken.
Allein schauen wir genauer hin, so bemerken wir, dass es doch Eigenschaften gibt, welche dem Philosophen sowohl als dem Dichter eignen. Beide nämlich konstruieren etwas, womit sie arbeiten, wenngleich sie dazu völlig unterschiedliches Material verwenden. Sie bauen damit jedoch etwas zusammen, was nicht einzig ihnen, sondern imgleichen anderen von Bedeutung und Hilfe ist oder zumindest bisweilen sollte. Überdem können sie beide darin scheitern, weil ihr hauptsächliches Geschäft im Denken besteht. Dass aber ohne beide die Welt bedeutend ärmer wäre, steht zweifelsohne fest, obzwar es nicht immer einfach zu sehen ist, worin ihr Wert, der oftmals rein intrinsischer Natur ist, besteht.
Dieses Weblog darf, wie ich zu behaupten wage, als Beweis angesehen werden, dass es sich zwar um eine Dialektik handelt, dieselbe aber, und zwar als einzige, akzeptabel ist. Die Kunst nämlich besteht darin, beide zu leben und doch die Fähigkeit zu besitzen, zwischen denselben die Grenze zu ziehen. Imgleichen werden hier jedoch bisweilen die beiden Welten – oftmals, aber nicht immer, bewusst – kollidieren und sich vermengen. Was daraus entsteht, sind Wunderwesen und Monster, Verzückung und Abscheu, Liebe und Tod, ästhetisches Vergnügen und abgrundtiefer Ekel, Geborgenheit und gewaltsame Abstoßung. Die lichten Momente mögen wenige sein, dafür aber umso erhebender. Und diese winzige Erhabenheit eines Augenblickes ist es, was das Leben lebenswert macht. Nicht alles geschafft zu haben und alles zu wissen, sondern alles versucht zu haben, ist das Ziel, d. i. der Weg selbst. Willkommen in diesem meinem Labyrinth!